ottilie

Ottilie wird Tee trinken

Die Konvergenz geht oft an den Verbrauchern vorbei

Der Professor, bei dem ich Mitte der siebziger Jahre das Fach Marketing belegt hatte, hatte sich in seiner Habilitationsschrift mit „betriebswirtschaftlicher Warentypologie“ befasst. Dahinter verbarg sich im Großen und Ganzen eine Aufzählung von typischen Eigenschaften von Waren und den Erfordernissen für deren Vermarktung, etwa derart, dass für den Vertrieb von Möbeln im Bundesgebiet zwei Zentrallager notwendig seien, für Tiefkühlkost dagegen eher an die 20 Auslieferungslager. Mir kam es in Zeiten des blühenden Numerus Clausus schon sehr absonderlich vor, dass man Anfang der sechziger Jahre Professorentitel erwerben konnte, in dem man nur seinen gesunden Menschenverstand zusammenkratzte und derart offenkundige Tatsachen schriftlich niederlegte.

Mein alter Herr Professor

Nichts gegen den Herrn Professor. Ich habe durchaus viel bei ihm gelernt, wie man vielleicht auch in der Folge lesen kann. Inzwischen möchte man sich angesichts der geballten Ladung an hohlen Phrasen, an hoffnungsfroh-optimistischen Businessplänen, an schillernden Seifenblasen im Geschäft mit der Medienzukunft wünschen, dass viel mehr solcher Leute im Stil meines alten Herrn Professors wieder zu einem Lehrstuhl kämen: gesunden Menschenverstand zusammenkratzen und mit Lebenserfahrung kombinieren und das an möglichst viele Studenten weitergeben, bevor diese in den Konzernetagen die Weichen für falsche Strategien stellen, Ressourcen verschwenden und die Verbraucher zum Narren halten.

So zum Beispiel, wenn auf dem Berliner Medienforum Jean-Claude Bisenius und Wolf Siegert die These vertreten, das digitales terrestrische Fernsehen wird ein Flop, wenn man es nur als Ersatz für die verbliebenen analogen terrestrischen Empfangsgeräte propagiert. Stattdessen müsse das Marketing auf neue Zielgruppen setzten, etwa die jungen mobilen Stadtbewohner, die unterwegs Fernsehen auf ihren PDAs (Personal Digital Assistents, also diese kleinen Notizbuchcomputer) anschauen wollen.

Über die Ausgangsthese läßt sich sicherlich trefflich diskutieren. Aber die Herren Berater von VisionConsult machen es sich ein wenig zu leicht, wenn sie unreflektiert Tendenzen aus anderen Märkten (hier dem Handy-Boom) in neue Märkte transponieren.

Das Handy ist sicherlich eine Erfolgsgeschichte. Auch die SMS, die kleinen Textnachrichten sind ein Bombengeschäft - allein in Deutschland wird mit 25 Mrd. solcher Botschaften in diesem Jahr 1/8 des Weltaufkommens an SMS versandt. Hauptträger des Erfolges sind die jugendlichen Handykunden.

Daraus aber abzuleiten, diese Zielgruppe sei mittelfristig auch für den Empfang von digitalem terrestrischen Fernsehen unterwegs in ähnlichem Maß zu begeistern, verkennt einfach ein paar grundlegende Erfahrungen aus dem Alltagsleben: wer sich einen PDA leistet, dürfte inzwischen in die gestresste Altersgruppe der termingeplagten Twens bis Thirty-Somethings aufgerückt sein.

Woher die Zeit nehmen für mobiles TV?

Doch wo soll die Zielgruppe noch die Muße aufbringen, unterwegs auf ihren PDA zu schauen und dabei digitales terrestrisches Fernsehen zu genießen. Vielleicht nutzen sie ihre PDAs um mobil die schon überstrapazierten laufenden Börsenkurse zur Kenntnis zu nehmen. Aber dafür gibt es mittlerweile schon genügend konkurrierende Übertragungsverfahren. Ist das die Killer Application ausgerechnet für DVB-T?

Bisenius und Siegert haben ihre Weisheiten aus Interviews bezogen, die sie in den oberen Etagen von zahlreichen Medien-, Telekommunikations- und Industriekonzernen geführt haben. Immer jeweils ein Mitglied aus der Geschäftsleitungsebene und ein Mitglied aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung haben sie für eine Studie im Auftrag der Berlin-Brandenburger Medienanstalt befragt zum Thema „Multi Media Mobil“.

An anderer Stelle auf dem Medienforum erinnerte ein Vortragender an ein Geschäftsmotto aus dem Hause Digital Equipment: „Hören Sie nicht auf das was das Management sagt, sondern auf den Kunden“. Das hat zwar nicht verhindert, das Digital vom Markt verschwunden ist, aber es beinhaltet trotzdem eine universelle Weisheit, die allzu gern von den Apologeten der neuen Medienwelt vernachlässigt wird. Und deren Kunde ist der Verbraucher von Gütern oder auch Nutzer von Dienstleistungen.

Seit nach dem Ende des Golfkrieges 1991 die bis dahin geheimgehaltenen Grundlagentechnologien für das digitale Fernsehen von der amerikanischen Industrie bekanntgemacht wurde, blühen die Phantasien von Entwicklern und Vermarktern. Konvergenz zwischen den unterschiedlichen elektrotechnischen Feldern Computer, Telekommunikation und Unterhaltungselektronik ist angesagt, aber in den letzten Jahren nicht sehr viel weiter gekommen, zumindest nicht aus Sicht der Unterhaltungselektronik.

Sprüche zuhauf auf der Funkausstellung

Interaktivität, E-, M- und sonstiger Commerce, Video-on-Demand, breitbandiges Internet auf eine Vielzahl von Endgeräten gebracht, je kleiner und mobiler desto besser, das sind die Blütenträume der Strategen aus der Geräte- und Programmindustrie. Und auch auf der diesjährigen IFA werden uns diese einschlägigen Sprüche wieder zuhauf begegnen.

Dabei sollte doch gerade die geplatzte Spekulationsblase aus dem vergangenen Jahr dafür gesorgt haben, dass wieder mehr Realismus in der Beurteilung der technischen Entwicklung, der Möglich- und Machbarkeiten und vor allen Dingen und in erster Linie der wirklichen Bedürfnisse der Verbraucher eingekehrt sein.

Sollte man meinen. Aber stattdessen wird zum wiederholten Mal endlich der Start des digitalen Radios gefeiert, das digitale Fernsehen den Zuschauern jetzt mit der Multimedia Home Plattform (MHP) schmackhaft gemacht, die schöne neue Welt des Multimedia-Mobilfunknetzes UMTS beschworen und so viele neue Segnungen der Konvergenz aus Computer, Telekommunikation und Unterhaltungselektronik vorgestellt, wie sie Ottilie Normalverbraucherin gar nicht benötigt, nicht zuletzt, weil sie sie gar nicht versteht.

Schauen wir doch noch mal ins Detail: was ist eigentlich die digitale Konvergenz? Es handelt sich hier um die Zusammenführung der unterschiedlichen technologischen Bereiche von Computertechnologie, Telekommunikation und Unterhaltungselektronik.

Das findet nun schon seit Jahren schon statt. Die digitale Audioscheibe CD fand kurze Zeit später ihren Weg in die Computertechnik als Massenspeicher und von dort aus zurück in die Unterhaltungselektronik in Form ihrer Weiterentwicklung DVD.

Die Kabelnetze werden nun auch endlich digitalisiert und mit einem Rückkanal versehen, auf dass darüber nicht nur Fernsehsignale verteilt werden, sondern auch Mediendienste, breitbandiges Internet und Telefonservices.

Auf dem Computer ist Konvergenz schon Alltag

Ohne die Telekommunikationsnetze ist das computerbasierte Internet nicht denkbar. Und aus dem Computer heraus kann ich genauso gut Faxe versenden wie mit einem eigenständigen Faxgerät. Radio- und TV-Karten sind inzwischen billige Gimmicks für den Computer, Soundkarten gehören ohnehin zum Standard und der ambitionierte Videoamateur schneidet längst schon seine Urlaubsfilme in semiprofessioneller Qualität auf dem Computer und gibt sie in der Endfassung wieder vom Videorecorder oder dem Camcorder auf dem Bildschirm wieder. Das soweit ist Realität und ganz alltäglich Anwendung.

Was aber in den Marketingabteilungen der Geräte- und der Medienindustrie herumgeistert, sieht so aus: der Konsument ruft interaktiv ein Sportprogramm ab und während er gerade den spannenden Fußballzweikampf beobachtet, wird ein roter Kreis eingeblendet, der sich auf das Trikot des Spielers schiebt. Auf dem so genannten „Hot Spot“ kann jetzt der Verbraucher mit der Fernbedienung clicken und sich per Impulskauf ein Fan-Exemplar des Spielerpullovers bestellen, und zwar nicht gerade zu Sonderangebotspreisen.

Um überhaupt sicherzustellen, dass das so funktioniert, damit sowohl die Rundfunk- und Diensteanbieter, als möglicherweise auch der Betreiber interaktiver Kabelnetze sich refinanzieren können, wurde beispielsweise die „Multimedia Home Plattform“ (MHP) entwickelt. Damit ist sie mitnichten einfach nur das lange geforderte allgemeine Betriebssystem für die digitalen Set-Top-Boxen.

Die Entwickler haben sich bemüht, all den vermuteten Anforderungen von Geräteindustrie und Dienstleistern zu genügen. Insbesondere die Verarbeitung von unterschiedlichen Verschlüsselungsverfahren soll mit MHP-Boxen, kombiniert mit Common Interfaces und Conditional Access Modulen (abgekürzt nennt sich das Ganze CICAM) endlich möglich sein. Selbst dem Autor dieser Zeilen gelingt es trotz jahrelanger Beobachtung der Entwicklung nur mit mühevoller geistiger Anstrengung, jedesmal von Neuem zu rekapitulieren, welche Funktionen sich hinter den Kürzeln verbergen-.

"Zapping-Boxen" für die Armen

Immerhin leicht zu merken ist der preisliche Unterschied zwischen simpler „Zapping-Box“, wie sie als Basisdecoder für den Empfang des digitalen Fernsehens mit leicht degoutantem Unterton genannte wird, und den MHP-Wunderkisten. In einer Presseerklärung der „Arbeitsgemeinschaft der DVB-T-Projekte in Deutschland“ werden als Orientierungsrahmen 250 Euro für die „einfache Set-Top-Box“ und 600 Euro für den MHP-Empfänger genannt.

„Zapping-Boxen“ das sollen die Geräte sein, die bei einer Abschaltung des analogen Fernsehens dann den verbliebenen analogen Haushalten im Zweifel auch über die Sozialhilfe verfügbar gemacht werden. Alle anderen Nutzer sollen möglichst auf die „höherwertigen“ MHP-Boxen umsteigen. Die sollen dann mit eingebautem Modem für den Rückkanal die Bestellung von Video-on-Demand-Spielfilmen ermöglichen ebenso wie den Impulskauf des Fußballerleibchens, den Empfang von Internet-Diensten und e-mail, die Decodierung ganzer eigens vermarkteter TV-Programmbouquets, zahlreicher weiterer Mediendienste, vom Börsenkurs bis zu Ausflugstips, all das, was die moderne Ottilie Normalverbraucherin bislang in der gedruckten Zeitung vermisste und sich nun aus ihrem Leben nicht mehr wegdenken kann.

Wer lamentiert denn da noch über komplizierte Fernbedienungen eines analogen Videorecorders und seine eigenen Unfähigkeit, diesen zu bedienen? Mit den modernen Set-Top-Boxen wird das gaaaanz einfach: tagelang im Voraus die Sendung oder vielleicht auch nur das Genre auswählen, was einen interessiert und der EPG (noch so ein Kürzel für einen englischen Terminus, das Ottilie sich merken muss) sorgt dafür, dass im rechten Moment der Fernseher auch anspringt. Der EPG verweist dann auf ähnliche zukünftige Angebote.

Jeder Sender programmiert da seine eigene Software zur Kundenbindung, die per Software-Upgrade über die digitalen Verbreitungswege schließlich auch permanent auf dem neuesten Stand der Technik gehalten werden. Die Konvergenz aus Fernsehen und Computertechnik sorgt auf diese Weise dafür, dass der alte Circulus Vitiosus des unaufhaltsamen technischen Fortschritt, der seit Jahren den Computermarkt durch immer schnellere und leistungsfähigere Hardware in Gang hält, nun auch nicht mehr vor Ottilie halt machen wird.

Die hochmoderne Box veraltet schnell

Entscheidet sie sich heute für eine hochmoderne MHP-Box mit 64 MB Speicherchip-Kapazität für die heruntergeladene - stopp: ohne ihr Zutun heruntergespielte! - Sendersoftware, wird sie die Kiste in spätestens fünf Jahren auf den Müll werfen können. Der allseits bekannte Ehrgeiz der Softwareentwickler wird diese nicht davon zurückhalten, die EPGs und sonstigen MHP-Benutzeroberflächen mit immer „besseren“ und leistungsfähigeren Features aufzupeppen. Wo vier Senderfamilien jetzt möglicherweise mit jeweils 8 MB zufrieden sind, werden sie in drei Jahren jede mindestens 64 MB für ihre digitale Präsenz auf der Set-Top-Box in Anspruch nehmen. Die Speicherchips wird Ottilie aber womöglich dann nicht mehr austauschen können, denn inzwischen gibt es schon die dritte, zueinander inkompatible technische Generation (vgl. EDO-RAM, SD-RAM, DDR-RAM in den vergangenen drei Jahren im Computermarkt).

Müssen sich die Regulierer im digitalen Fernsehen demnächst auch mit Speichermanagement herumschlagen und jedem Sender nur ein bestimmtes Kontingent an Softwareplatz in der Set-Top-Box zuweisen? Mit ziemlicher Sicherheit jedenfalls kann gesagt werden: den permanenten Aufrüstzwang jetzt auch in der Unterhaltungselektronik werden die Verbraucher nicht mitmachen. Rundfunk als Netztechnologie muss sich bei Innovationen permanent am schwächsten Glied der Kette orientieren und zwingt geradezu zu kompatiblen Verbesserungen. Wo es hinführt, inkompatible Weiterentwicklungen am Markt (im Netz) durchzusetzen, erleben wir ja gerade mit den vielfältigen Problemen bei der Einführung des digitalen Rundfunks.

Software ist anfällig für Viren

Software birgt auch noch eine andere Problematik: sie ist anfällig für Fehlfunktionen, im schlimmsten Fall für böswillige Manipulationen, sprich: Viren. Auch wenn die Entwickler von MHP große Sorgfalt darauf verwandt haben, ein möglichst stabiles Softwaresystem aufzubauen: je komplexer die Anforderungen, desto mehr Hintertüren für Fehler in der Software und für die Einflussnahme von Crackern. Man stelle sich nur einmal vor, wie effektiv fußballbegeisterte Computervirtuosen in den vergangenen Wochen ihren Protest gegen die Kommerzialisierung der Bundesliga durch Kirch, SAT 1 und den Liga-Ausschuß hätten zum Ausdruck bringen können. Ein Virus in der EPG-Software von SAT 1 und bundesweit wären die digital versorgten Bildschirme schwarz geblieben. Kaum auszudenken, was ein solcher GAU auf die Kaufbereitschaft der analog verbliebenen Verbraucher an Einfluss hätte. Der Markt für digitale TV-Endgeräte bräche gewaltig ein. Die Zeitplanung für die Abschaltung analoger Fernsehversorgung käme gehörig durcheinander. Vollkommen auszuschließen ist dieses Szenario keinesfalls.

Seltsame Fixierung auf Mobilität

Von  Ingenieuren und euphorischen Marketingleuten vorangetrieben ist auch die seltsame Fixierung aller neuen Konvergenztechnologien auf die mobile Anwendung. Der Erfolg der Handies verleitet die Apologeten aus der Industrie (und zum Teil auch schon in den Sendern, wie das in Berlin breit propagierte Konzept von „ZDF mobil“ zeigt) alle möglichen Gerätschaften für die junge urbane Tochter von Ottilie Normalverbraucherin zu planen und herzustellen und mit entsprechender Software zu versehen. Unreflektiert wird nachgebetet, dass die mobile Nutzung der Handytechnologie in der jungen Generation auch zu zahlreichen weiteren mobilen Mediennutzungsformen führen wird.

Mein Herr Professor hätte mit ein bisschen gesunden Menschenverstand aufgrund seiner „betriebswirtschaftlichen Warentypologie“ den Erfolg des Handies sicher damit hergeleitet, dass die Menschen zum einen gerne auch mobil für Anrufe erreichbar sein möchten (wie wichtig die auch immer sind), und zweitens angesichts der immer weniger werdenden Telefonzellen und der Schlangen davor, vielleicht auch angesichts fehlenden Kleingeldes dann doch lieber auf ein eigenes Mobiltelefon zurückgreifen. Außerdem wäre ihm sicherlich auch aufgefallen, dass die normale Nutzung eines Telefons nicht sehr viel Zeit in Anspruch nimmt.

Fragt sich unter diesen Umständen: warum soll man permanent mit einem mobilen Fernsehgerät durch die Straßen laufen, das die Aufmerksamkeit im Zweifel sehr viel länger bindet als ein Telefongespräch. Welche Ausmaße hat so ein Bildschirm? Wie anfällig gegenüber Beschädigungen sind die teuren Geräte? Wie oft müssen Batterien gewechselt werden? Will man permanent den Verfall des Telekom-Aktienkurses in Echtzeit verfolgen und mehrmals täglich mit Orders ins Geschehen eingreifen?

Stellt die Industrie jemals diese Fragen?

Fragen  über Fragen, bloß wer stellt sie sich in den Etagen der Industrie? Jedenfalls ist bis heute nicht bekannt, dass die seit Jahren erhältlichen Mini-TV-Geräte von Casio schon in der analogen Welt das Nutzungsverhalten der Fernsehzuschauer revolutioniert haben

Nokia präsentiert ein portables DVB-T-MHP-Gerät, dass - so Helmut Stein - schon Anfang nächsten Jahres zum Preis von unter 1000 DM auf den Markt gebracht werden könnte. Clou dabei: mit eingespeicherten Werbebotschaften wie dem komplett vorinstallierten „Quelle“-Katalog soll der Endverkaufspreis heruntersubventioniert werden. Stellt sich nur die Frage: wo sind den die schönen mobilen Flachbildschirme geblieben, die Nokia auf der letzten IFA zusammen mit Albrecht Ziemer vom ZDF der Fachöffentlichkeit präsentiert hat? In den Läden waren sie jedenfalls nicht zu sehen.

Düstere Aussichten für UMTS

Das führt uns zu UMTS: eigentlich braucht man dazu kein Wort mehr verlieren, denn die Lizenznehmer stehen ein Jahr nach der großen Auktion da wie begossene Pudel. Die Killer-Application ausgerechnet für mobiles Multimedia gegen Gebühren ist überhaupt nicht erkennbar. Händeringend suchen sie nach geeigneter Software. Zu komisch auch die Werbeclips, mit denen etwa noch vor einem Jahr D2 für die Möglichkeiten von UMTS geworben hat, etwa die Szene mit der Frau, die von der Baustelle kommend sich im Taxi per Videotelefon ein paar Pumps aussucht und sich ins Hotel schicken lässt

Mein Marketing-Professor hätte an dieser Stelle darüber doziert, dass sich stark standardisierte Produkte wie Bücher, CDs und Flugpassagen sehr gut über Fernabsatzwege vertreiben lassen. Potentiell drückende Schuhe, die frische Pizza oder auch die beratungsintensive Einbauküche dagegen kaum. Der Mannesmann-UMTS-Clip wäre für spätere Generationen ein Musterbeispiel für die Hybris abgehobener Medieneuphoriker, die ihre Konstruktion von Welt als allgemein gültig auch für Ottilie Normalverbraucherin verordnen, dabei jedoch jeglichen Kontakt zur Realität verloren haben.

Auch das noch: die "Multimedia Car Platform"

Aber das sind nicht nur die Marketingstrategen. Auf dem Medienforum Berlin tritt Peter Christ von der T-Nova, einer Tochtergesellschaft der Telekom, auf. Christ, ein Diplom-Ingenieur für Nachrichtentechnik, koordiniert auf europäischer Ebene das Projekt MCP, abgekürzt für „Multimedia Car Plattform“. In einer langen Folge von unterschiedlichen europäischen Forschungsprojekten seit Mitte der achtziger Jahre ist die Automobilindustrie inzwischen dort angekommen wo es um die vollständige Computerisierung des Autos geht und - hier ist die Konvergenz schon richtig weit vorangetrieben, um die Multimediaversorgung. Nicht mehr nur Audiosignale vom Autoradio mit Cassettenteil oder CD-Player müssen in der rollenden Blechbüchse verteilt werden. Nein, Bildschirme für alle Mitfahrer, wobei, die Herren Ingenieure immer betonen, dass der Fahrer den Bildschirm während des Fahrens nicht benutzen darf, außer als Display für Navigations- und dynamische Zielführungssysteme.

MCP, so Christ, hat sich MHP als Vorbild genommen und baut in seinen Spezifikationen auch auf MHP auf. Gedacht ist an Fernsehen im Auto, vielleicht an die Versorgung der mitfahrenden Kinder im Fond mit Videospielen auf dem Bildschirm in der Kopfstütze. Für diese Technik optimieren die Damen und Herren Ingenieure im DVB-Projekt die Rundfunkversorgung entlang der Autobahn, sodass auch jenseits der 150 km/h die Signale stabil in die Autos übertragen werden. Dafür müssen dann andere Parameter zurückgefahren werden, etwa, wenn es um stabile Inhaus-Versorgung mit Digitalsignalen geht. Senderstandorte werden bevorzugt entlang der vielbefahrenen Trassen etabliert, Klein- und Mittelstädte müssen warten. Dies gilt übrigens gleichermaßen auch für die DAB-Radiotechnik.

Natürlich macht sich Peter Christ in seinem Vortrag über die „Multimedia Car Plattform“ auch Sorgen um die Sicherheit. Eines der größten Probleme, die in seinem Projekt gelöst werden sollen, sind Kollisionen, Kollisionen von Software. MCP wird optimiert auf Systemsicherheit, damit die Software für die Autoversorgung mit Multimedia-Daten nicht abstürzt. Es war nicht ganz nachzuvollziehen, ob ein deutscher Ingenieur am Rednerpult verstanden hatte, warum sich im Publikum Heiterkeit breit machte.

Das Mantra der DAB-Propheten

Wo wir gerade beim Thema Auto sind: gebetsmühlenartig propagieren die Hersteller von DAB-Geräten die Behauptung, dass der überwiegende Teil der Radionutzung im Auto stattfindet. So auch wieder die Vertreter von Blaupunkt auf der Messe. Mit diesem Mantra lässt sich immerhin rechtfertigen, warum die europäische Großindustrie DAB-Geräte erst einmal als Autoradios auf den Markt bringt, während der Heimgerätemarkt der japanischen Konkurrenz und einigen kleinen, aber feinen englischen HighEnd-Schmieden überlassen bleibt.

Volker Steiner, Noch-Vorsitzender der „Initiative Marketing Digital Radio“ (IMDR) beschwor ein weiteres mal die zahlreichen Zusatzdienste, die nun jetzt endlich in Schwung kommen und das digitale Radio attraktiv für breite Benutzerkreise machen sollen. Data Broadcasting in die DAB-Empfänger, digital weiterzuverarbeiten mit angeschlossenen Computern. Ein Rätsel bleibt weiterhin, wie das im Auto geschehen soll.

Die Ideen mit PAD und Non-PAD (PAD steht für „program associated data“, also programm- bzw. nichtprogrammbezogene Daten) stammen aus der Frühzeit von DAB. Damals ging der deutsche DAB-Guru Frank Müller-Römer noch mit der Idee hausieren, dass DAB-Nutzer sich beispielsweise einen Service der lokalen Tageszeitung abonnieren könnten, mit denen sie ein paar Stunden früher als die Leser der Print-Ausgabe über die Kleinanzeigen aus dem Wohnungs- oder Gebrauchtwagenmarkt verfügen konnten. Das war noch zu Zeiten als von Internet in Deutschland nur Eingeweihte sprachen.

Die technische Entwicklung hat derartige Ideen von Datenrundfunk längst hinter sich gelassen. Zumindest ist DAB kein exclusives Medium mehr für solche Dienste. Dementsprechend ist es auch wenig sinnvoll, dies immer noch als ein entscheidendes Verkaufsargument herauszustellen. Allenfalls im Zusammenspiel mit Navigationssystemen könnte Datenrundfunk via DAB eine gewisse Sinnhaftigkeit entfalten. Fragt sich nur, wer bei den weiterhin horrend hohen Preisen für die Endgeräte als Kunde in Frage kommt.

Positives Gegenbeispiel: die DVD

Ottilie wird sicherlich Tee trinken und abwarten, welche Technik sich schließlich durchsetzen wird. Diese Tendenz ist spätestens seit dem großen Normenkrieg um die Videosysteme vom Beginn der 80er Jahre bei den Verbrauchern spürbar. Sie sind viel intelligenter als so mancher Stratege in den Industrie- und Senderetagen wahr haben will. Dort wo Unterhaltungselektronik einen spürbaren Mehrwert mit sich bringt, da ist der Kunde auch bereit, Geräte zu kaufen. Das beste Beispiel ist die DVD.

Sie hat seit ihrer Markteinführung 1997 ihre Vetterntechnologie CD noch einmal spürbar überholt. Bei der CD dauerte es fünf Jahre bis in Deutschland mehr als 1 Million Abspielgeräte verkauft worden waren, bei der DVD sind es keine vier Jahre gewesen. Die Verbraucher haben erkannt, dass die DVD ein universelles Speichermedium für eine Vielzahl von unterschiedlichen medialen Anwendungen ist und dementsprechend Vertrauen in die Technologie gefasst

Kaum beachtet wird der Trend hin zu Surround-Anlagen für den Raumton. Gekoppelt mit dem DVD-Spieler wird das Wohnzimmer zum Kinosaal. Die entsprechenden Verstärker sind schon seit geraumer Zeit zu verhältnismäßig moderaten Preisen im Handel.

Auch 16:9 setzt sich langsam durch

Auch  der Breitbild-Monitor setzt sich langsam in den Haushalten durch. Es waren aber nicht die Sprüche vom „physiologisch besseren Sichtfeld“ mit denen die Techniker Anfang der 90er die 16:9-Bildschirme den Nutzern schmackhaft machen wollten, es war der Preisverfall und der Bedarf nach Ersatzgeräten, der jetzt dafür sorgt, dass viele Zuschauer - wenn sie denn mal wieder 1800 DM für ein Fernsehgerät ausgeben - auch einen breiteren Bildschirm nehmen. Was man eben so kriegt für eine angemessene Summe, die man zu zahlen bereit ist.

Möglicherweise hat auch eine einheitliche Multimedia-Hausvernetzung ein großes Marktpotential. Etwas, das das Durcheinander von Cinch-, SCART-, DIN- und USB-Kabel ablöst. Am besten allerdings es funktionierte drahtlos, damit nicht noch gewaltiger Investitionsaufwand und aufgespitzte Wände notwendig werden.

Ideen, die auf der Hand liegen, sind gefragt, weil sie handfesten Nutzen bringen: Set-Top-Boxen mit mehreren Empfangsmodulen für die gleichzeitige Versorgung von verschiedenen Zimmern oder Endgeräten (Video, Audio, Computer) dürften  eigentlich gar nicht mehr so viel teurer sein. Ein DVB-Frontend, also der Empfängerkern, kostet im Zwischenhandel gerade mal kaum mehr noch als 20 Dollar.

Wer erinnert sich noch ans Tamagochi?

Alles andere wird es schwer haben, sich am Markt durchzusetzen. Einzelne Erfolgsgeschichten wie die der SMS wird es immer wieder geben, manches davon auch nur eine Modeerscheinung bleiben - wer erinnert sich denn noch ans Tamagochi?

Erfolgreich wird nur der Geräte- oder Diensteanbieter sein, der sich ein paar Gedanken mehr macht zu den Bedürfnissen von Ottilie Normalverbraucherin und da ist die ganz gewöhnliche praktische Intelligenz und der gesunde Menschenverstand gefragt. Oder um es mit Andreas Horx zu sagen, Geschäftsführer von Ogilvy Interactive: „Auf Nutzerbedürfnissen aufbauen, nicht auf Angeboten.“ Man kann es gar nicht oft genug sagen.

Jürgen Bischoff (-boff-)